Beitrag zum Symposion: "Universalitaet unter pragmatischem Anspruch - Philosophie im Bologna Prozess"

Initially published at: https://stamer-reflex.com/node/126

Der Vortrag selbst (in Deutsch) wurde mitgeschnitten und ist bei https://stream.mml.uni-hannover.de/Video-Files/RRZN/ELSA/philo_sem/sympos... abrufbar. Ist aber nur funktionell mit Windows Media Player.

Ich muss diesen Vortrag mit zwei Vorbemerkungen beginnen:

Die erste Vorbemerkung ist ueber verschiedenen Huete, die ich in dieser Diskussion trage. Gerd Stamer hat mich in die Arbeitsgruppe "Lebenswissenschaften" eingestuft. Und das ist auch nicht falsch. Ich bin Biochemiker und habe in einem molekularbiologischem Praktikum 1987 in Rom wohl an den ersten Gensequenzierungen in Italien mitgearbeitet. Seit mehr als 10 Jahren beschaeftige ich mich nur noch am Rande mit "Naturwissenschaften". Ich bin ein "Internetgeek" geworden oder feiner gesagt, ich arbeite in dem Bereich, den man heute mit "KnowledgeSociety" bezeichnet. Ich habe also in den letzten 20 Jahren zwei revolutionaere Entwicklungen unserer Gesellschaft von Innen gesehen - und das hat mich natuerlich gepraegt. Aber ich sollte auch von meinem dritten Hut sprechen. Ich bin Angestellter der Vereinten Nationen, speziell der Welternaehrungsorganisation. Das Ziel meiner Organisation ist es, den Hunger in der Welt zu beseitigen, prosperiernde laendliche Lebensgemeinschaften zu erzielen und das alles bei Bewahrung der Umweltbedingungen.
Die zweite ist ein Disclaimer: Bitte erwarten Sie hier keine wissenschaftliche Abhandlung. Was vor ihnen liegt sind Denkfragmente zu Philosophie und Gesellschaft von einer Person, die sich gewoehnlich mit management von Project, Personen und Budgets beschaeftigt.

Ich habe hier 7 Fragen vor mir, auf die ich mit mehr (einige) oder weniger (andere) grosser Muehe antworten kann. Ich werde in meinem Beitrag versuchen, zumindestens alle diese Fragen zu streifen. "Erkenntnistheoretische, oder Sprachphilosophische Reflexionen" sind mir weder in meinem Biochemiestudium noch in meiner Berufstaetigkeit als "offizielle" Fragestellungen untergekommen, was aber nicht heisst, dass sie keine Bedeutung haetten. Ethik taucht mittlerweile ueberall auf - und selbst bei einem Projektantrag fuer die Verbesserung eines Indizierungsprogrammes muessen heute ethische Erwaegungen gemacht werden. Dazu aber spaeter.

Ich bin ueberzeugt davon, dass erkenntnistheoretische Grundmuster die Haltung eines Naturwissenschaftlers seiner Arbeit gegenuber beeinflussen.

Ich habe eigentlich Biochemie studiert aus einem philosophischen Interesse. Anfang der 80er Jahre war ich in einem Arbeitskreis mit Jan Bloch, um "Dialog mit der Natur" von Ilya Prigogine zu lesen. Dieser Ansatz, der den Menschen als Teil der Natur, und die Naturwissenschaften als einen Dialog mit der Natur betrachteten, hatte mich beeindruckt.

Leider habe ich diesen Ansatz dann verloren. Waehrend meines Studium (83-89) war ich von Norbert Feyerabend beeinflusst und habe auf einem wissenschaftlichen Seminar ueber Molekulargenetik einmal Handzettel verteilt, auf denen stand, dass wir verstehen muessten dass Naturwissenschaften auch nicht wahrer sind als Dada (Ich habe in Hannover studiert und war zu der Zeit ein haeufiger Besucher der Schwitters Ausstellung im Sprengel Museum). Ich war damals auch sehr kritisch der Biotechnologie gegenueber.

Dann habe ich wirklich gearbeitet, Forschung getrieben und mich mit wissenschaftlichen Argumenten und Evidenz wisschaftlicher Forschung auseinandergesetzt. Das hat mich an einem bestimmen Punkt dazu gebracht, Popper zu lesen. Das passte weitaus mehr zu meinen praktischen, lebensweltlichen Erkenntnissen und Erfahrungen als Naturwissenschaftler.

Aber es loest nicht das Problem der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften (im Englischen wird diese Trennung noch deutlicher "Science and Humanities") was ausdrueckt, dass Naturwissenschaften nichts mit Menschen und Geisteswissenschaften nichts mit der Natur zu tun haben. Und das laesst mich zutiefst unbefriedigt. Oder um Ilya Prigogine zu zitieren:
"we want to have a universe that is not divided into two separate fields. What we want is a concept of the universe that comprises thinking and biology without any contradiction with physics. We are, after all, the evolutionary product of nature...."
Ich will mich einfach nicht mit einer Sichtweise abfinden wie sie am Besten von Monod ausgedrueckt wurde, wenn er sagte: " ...der Mesch (muss) endlich aus seinem tausendjaehrigen Traum erwachen und seine totale Verlasssenheit, seine radikale Fremdheit erkennen, Er weiss nun, dass er seinen Platz wie eine Zigeuner am Rande des Universums hat, das fuer seine Musik tabu ist und gleichgueltig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen."

Ich hingegen sehe den Menschen und die Natur, Philosophie und Naturwissenschaften, nicht getrennt: "Es ist eine der Hauptthesen dieses Buches, dass zwischen den Problemen, die eine ganze Kultur kennzeichnen und den begrifflichen Entwicklungen in der Wissenschaft, die dieser Kultur angehoert, eine starke Wechselwirkung besteht. Im Mittelpunkt der Wissenschaft stehen Probleme von Zeit, Werden und Irreversibilitaet, Probleme, auf die jede Philosophen - und Wissenschaftlergeneration eine Antwort zu geben versuchte." (Ilya Prigogine, Dialog mit der Natur, S. 26)

Ich glaube, dass ich zur zweiten Frage nichts weiter als Banalitaeten sagen kann. Aber vielleicht kann ich auch provozieren. Ich beginne wieder mit einem Zitat von Ilya Prigogine:
"Kant's kritische Philosophie ratifiziert zwar saemtliche Ansprueche der Wissenschaft, doch verweist sie die wissenschaftliche Taetigkeit in den Bereich jener Probleme, die man als einfach und unbedeutend bezeichnen kann. Sie verdammt die Wissenschaft zu der endlosen Muehe, die monotone Sprache der Phaenomene zu entziffern, und behaelt sich selbst den Bereich jener Fragen vor, bei denen es um die "Bestaetigung des Menschen geht: Was kann der Mensch wissen, was soll er tun, was darf er hoffen?" (Dialog mit der Natur, S. 95).
Nach Kant, v.a. mit Hegel/Marx hat die Geisteswissenschaft/Philosophie noch einen Versuch gemacht, die Naturwissenschaften zu entthronen und ein eigenes Modell an ihre Stelle zu setzen. Das ist gruendlich daneben gegangen und seitdem ist die Philosophie impotent.
Weder in der Naturwissenschaft, noch in der Internettechnik gibt es eine "Abgrenzung" von der Philosophie. Sie ist (mit der Ausnahmen des famosen Bereiches "Bioethik") einfach irrelevant. Und das liegt an den Philosophen, die nicht mit uns kommunizieren, weil sie die geistigen und technische Produkte von Naturwissenschaft und Technik fuer philosophisch irrelevant halten. Und das wird so bleiben , solange die Philosophie nur "Wissenschaft" oder "Technik" als Subjecte ihres Denkens ansieht, nicht aber die bestimmten Produkte von Naturwissenschaft und Technik.
Ich kenne nur wenige Ausnahmen ausserhalb der Ethik (thematisch: Evolution, Namen: Illies, Hoesle, Sennet)
in denen sich die Philosophie mit den Inhalten der Naturwissenschaft beschaeftigt - wenn das falsch ist, dringt das Gegenteil zumindest nicht zu mir durch.

Das produziert ein Defizit (Frage 3). Das "philosophischste" Buch, das in den letzten Jahren ueber die Internet Revolution geschrieben wurde, ist "The World is flat" von Thomas Friedman. Aber Friedman ist kein Philosoph, sondern ein Journalist der "Washington Post". Ich waere extrem interessiert ein Buch von Christian Illies uber die philosophische Bedeutung der Revolution zu lesen, die wir zur Zeit Erleben und die dazu fuehrt, dass in Zukunft jeder mit jedem verbunden ist, und zwar in real time.
Eine weitere Konsequenz des fehlenden Eingriffs von Philosophen in Naturwissenschaft und Technik ist, dass die Naturwissenschaftler selber sich der philosophischen Aspekte ihrer Arbeit annehmen. Dabei kommen m.E. wundervolle Ergebnisse heraus, wie die Denkschule von Ilya Prigogine/Isabelle Stengers, aber auch Peinlichkeiten, wie die Leugnung der Freiheit durch Wissenschaftler, die grundlegende Entdeckungen ueber die Funktion von Gehirnzellen gemacht haben - oder eben so etwas wie "Richard Dawkins.net".

Fragen 4 und 5 sind sehr theoretisch. Viel ist darueber geschrieben worden und das meiste davon habe ich nicht gelesen. Aus meiner eigenen Erfahrung fallen mir 3 Stichworte ein, "Vernunft, Evidenz, Uebereinkunft". Vernuenftiges argumentieren, praktische Evidenz und soziale Uebereinkunft. Alle drei Kriterien existieren, um Thesen und Theorien zu verifizieren, wobei das verifizieren, immer klein geschrieben werden sollte. Fuer mich ein wunderbares Beispiel vernuenftiger Argumentation ist Bertrand Russels Parabel from himmlischen Teekessel, um bestimmte Argumentationen fuer die Existenz eines Gottes ad absurdum zu fuehren. Auch die Evolutionstheorie basiert auf vernuenftigen Argumenten, die bisweilen, aber keineswegs immer durch Evidenz gestuetzt werden. Keineswegs kann alles durch ein Experiment belegt werden. Ich habe einmal behauptet, dass ich ein guter Chemiker, Koch und Programmierer sei, weil sowohl im Labor wie in der Kueche als auch am Computer, ausprobieren, abschmecken und wiederholen die Techniken sind, um zu einem annehmbaren Resultat zu kommen. Jede theorie basierte Planung ist nur Hilfswerk, wenn Neues ausprobiert werden soll. Manchmal gibt es aber auch nur soziale Abmachungen ueber die Akzeptanz einer Theorie oder Technik. Es gibt keinerlei Beweis, dass das HTTP Protokoll das effizientestes Protokoll fuer Datenuebertragung im Netzwerk ist; aber darauf hat sich die Gemeinschaft geeinigt und das hat eine so ungeheure kritische Masse geschaffen, dass kaum jemand heutzutage dieses Protokol in Frage stellen wuerde.

Zu Frage 6 habe ich mich ja bereits genuegend eingelassen. Ich kann einen Gegensatz von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften nicht akzeptieren. Fuer mich gibt es einen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kaffeesatz lesen. Die Kaffeesatzleser gibt es natuerlich sowohl bei Leuten, die sich mit Philosophie und Geschichte beschaeftigen als bei solchen, die Naturwissenschaften betreiben. Anders ausgedrueckt: es sollte keinen Gegensatz geben zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, sondern zwischen schlechter Wissenschaft und guter Wissenschaft. Ein Naturwissenschaftler der, dogmatische Etrapolationen seiner experimentellen Ergebnisse auf andere Disziplinen oder das menschliche Leben macht, verlaesst den Bereich der guten Wissenschaft, auch wenn er den Nobelpreis fuer seine experimentellen Ergebnisse bekommen hat. Ich moechte hier einen Naturwissenschaftler und einen Geisteswissenschaftler zitieren. Der Naturwissenschaftler ist der beruehmte Physiker Richard Feynman und er hat gesagt: ""I have approximate answers and possible beliefs and different degrees of certainty about different things, but I'm not absolutely sure of anything...". Die andere Person ist ein Philosoph aus Oxford, Sir Geoffrey James Warnock und er hat gesagt "To be clear-headed rather than confused; lucid rather than obscure; rational rather than otherwise; and to be neither more, nor less, sure of things than is justifiable by argument or evidence. That is worth trying for."
Fuer mich ist mit diesen beiden Zitaten beschrieben, was Wissenschaft sein sollte.

Bei Behandlung von Frage 7 will ich nun auch ueber die Bedeutung von Ethik in Naturwissenschaft und Technik reden. Die lebensweltliche oder gesellschaftliche Relevanz einer Arbeit laesst sich selten nur aus der Sicht eines Faches bestimmen. Aber trotzdem ist es so, dass jede Disziplin Vorstellungen und Ansichten hat ueber die lebensweltliche und gesellschaftliche Relevanz.

Papst Benedict hat vor wenigen Tagen eine Stellungnahme herausgegeben, in dem er genau das der Naturwissenschaft abspricht. "Bisogna avere fiducia nelle capacita' della ragione umana" afferma il Papa, che ricorda "quali traguardi la ragione, mossa dalla passione per la verita', abbia saputo raggiungere". Ma - nota - "non sempre gli scienziati indirizzano le loro ricerche verso questi scopi. Il facile guadagno o, peggio ancora, l'arroganza di sostituirsi al Creatore svolgono, a volte, un ruolo determinante" e possono diventare "caratteristiche pericolose per la stessa umanita'". Benedetto XVI punta il dito contro lo "slittamento da un pensiero prevalentemente speculativo a uno maggiormente sperimentale" in cui "la ricerca si e' volta soprattutto all'osservazione della natura nel tentativo di scoprirne i segreti. Il desiderio di conoscere la natura si e' poi trasformato nella volonta' di riprodurla". La conquista scientifica e tecnologica ha "in qualche modo, emarginato la ragione che ricercava la verita' ultima delle cose per fare spazio ad una ragione paga di scoprire la verita' contingente delle leggi della natura".
Ein wenig polemisch interpretiert heisst das: Die Naturwissenschaften muessen in ihre Schranken verwiesen werden. Sie nehmen sich heraus, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sogar nachzubauen, obwohl doch die wirkliche Wahrheit mit den Gesetzen der Natur nichts zu tun hat - und natuerlich von der Kirche geliefert wird.

Gegen diese paepstliche Attacke (die Teil eines grossangelegten Feldzuges ist, der Kirche wieder einen Platz als wersetzende Instanz zu verschaffen) haben 50 italienische Naturwissenschaftler eine Erklaerung herausgegeben, die ich vollstaendig unterstuetze: (https://www.lucacoscioni.it/scienza_professori_a_papa_falso_che_non_esist...). Hier heisst es:

"E' falso che non esista una "dimensione etica" nella e della scienza. Non solo. La ricerca scientifica, oltre ad essere portatrice di un'etica di libertà, responsabilità e conoscenza e ad essere responsabile del triplicarsi delle aspettative di vita media, ci aiuta oggi a capire meglio perché siamo "persone morali", cioè quali ragioni e fenomeni siano alla base, ad esempio, dell'altrusimo e dell'empatia, oppure in quali condizioni siamo più disponibili a fornire solidarietà al prossimo. Tutto quanto di nuovo i ricercatori stanno scoprendo su questo fronte fa riferimento diretto a una teoria scientifica sulla quale è di nuovo il Vaticano e il suo Magistero a manifestare perplessità e resistenze: la teoria darwiniana dell'evoluzione."

Unter dem Stichwort von Bioethik wird heute oft versucht, die Freiheit der wissenschaftlichen Taetigkeit einzuschraenken. Ich beziehe mich hier auf Discussionen in der Stammzellforschung, zur Biotechnologie oder auch zur Informatik. Gegen Evidenz und rationales Argumentieren wird versucht obskure ideologische Leitsysteme auch denen aufzuzwingen, die damit nichts zu tun haben wollen. So wuerde ich die Behinderung der Stammzellforschung in Deutschland, Italien und den USA bewerten und auch die Haltung der Europaeischen Union gegenueber genetisch modifizierten Organismen

Ich moechte Ihnen ein Buch empfehlen: Es heisst "The sun, the genome and the internet" from Freeman J. Dyson. Ich habe es gerade in meinem Buecherregal unter "Naturwissenschaften" wiedergefunden. Aber da gehoert es gar nicht hin. Es ist ein Aufruf, die Naturwissenschaften zu entwickeln, um die Welt zu verbessern.Es ist eine Art von wissenschaftlicher Spekulation auf die Zukunft. Dyson ist 84 und ein ziemlich bekannter Nuklearphysiker. Der Optimismus und das Weltvertrauen, das aus diesem Buch stroemt ist geradezu ansteckend. Was wuerde ein Philosoph wohl schreiben, der dieses Buch liest?

Zu Anfang meiner Ausfuehrungen habe ich gesagt, dass ich jetzt fuer die Welternaehrungsorganisation arbeite. Sollte die Philosophie sich mit Fragen beschaeftigen ob es ethisch vertretbar ist, sich das Ziel zu setzen, die Anzahl hungriger Menschen bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Sollten die Philosophen diskutieren ob Konzepte wie "the right of food" irgendwelchen Sinn haben. Mich wuerde das schon interessieren. Alles, was wir tun in unserer Organisation hat ethische und erkenntnistheoretische Grundlagen. Aber ich sehe eigentlich die Philosophen nicht, die sich darum kuemmern.

Aber das will Reflex ja aendern.

johannes keizer
2008-10-26

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