Womöglich ist das für Altatlantiker ein noch schlimmerer Schock als für die jetzt in Deutschland regierenden 68er. Joscha Schmierer, ein Freund Joschka Fischers aus linksradikalen Tagen und mittlerweile im Planungsstab des Auswärtigen Amtes, erklärt es so: Der klassische Nachkriegs- und Nato-Atlantizismus hat die Vereinigten Staaten immer bloß als Stabilitätsgaranten betrachtet, er hat „nur das ordnende Moment im Blick gehabt und das revolutionäre übersehen“. George W. Bushs Amerika aber ist keine Status-quo-Macht mehr, sondern eine Kraft der Veränderung, ein weltpolitischer Unruhestifter. Darauf war das Bob-Dylan-Publikum besser vorbereitet als die herkömmliche Bündniselite in Schlips und Kragen.
Das mag ein bisschen hergeholt wirken in Anbetracht des akuten Konflikts zwischen den Neokonservativen drüben und den Post-68ern hüben. Aber eine Art Bruderschaft in der Respektlosigkeit gibt es. Man spürt das, wenn Karsten Voigt, der Regierungskoordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, über die Profi-Diplomaten beider Seiten spricht, die es gewohnt waren, das transatlantische Kind einträchtig zu schaukeln. Richtige Linke (wie Voigt auch einmal einer war) oder etwas wildere Konservative kamen im Bild nicht vor oder nur als Irritation am Rand: „Man war sich einig – hier, dass die Jusos spinnen, dort, dass die christliche Rechte spinnt.“ Nun sind die „Spinner“ an der Macht – die linken in Deutschland freilich geläutert und gezähmt, die rechten in Amerika mit ungebremstem Eifer und Sendungsbewusstsein. Für Leute wie Voigt oder Schmierer heißt das, dass ihnen zwar nicht unbedingt gefällt, was sie aus Washington hören. Aber sie verstehen die Sprache. Revolution, Befreiung, die Rolle der Gewalt dabei – das sind urlinke Themen und Probleme, und jetzt stehen sie mit der Frage nach „Regimewechseln“ und globaler Demokratie-Verbreitung wieder auf der Tagesordnung.
Wer selbst einmal einem aggressiven Emanzipationsglauben anhing, mag die Gefahren solcher Ideenmilitanz besonders lebhaft empfinden. Daniel Cohn-Bendit hat die Bush-Leute in einem Gespräch mit dem Super-Falken Richard Perle als „Bolschewisten“ bezeichnet; er wusste, wovon er redete. Aber die Unterhaltung scheint ihm Spaß gemacht zu haben. Der Sinn für den Reiz der Weltveränderung dauert auf der Linken fort, und so gibt es, schwer hörbar in den Misstönen des Streits, leise Andeutungen eines rot-grünen Neu-Atlantizismus. Aus Ärger über die Alleingänge der Vereinigten Staaten „darf man jetzt nicht in Fallen hineintappen“, bemerkt Schmierer, und es ist nur allzu klar, was er dabei vor Augen hat: irgendwelche kontinentalen Achsenbildungen von Paris über Berlin und Moskau nach Peking. Die angelsächsische Welt bleibt es, in der die Luft der Freiheit weht, nicht ein im Ressentiment geeintes Eurasien. Dasselbe Motiv klingt bei Karsten Voigt an: „Europa gegen Amerika zu definieren, das würde ein Weniger an Modernität und Fortschrittlichkeit bedeuten.“ Tony Blair, der humanitäre Internationalist, der Progressive an Bushs Seite, der Schutzheilige der Trotzdem-Atlantiker, könnte das ganz ähnlich sagen.